Vorwort von Dr. Martina Marschall im Katalog "Zeichen und Farbe" von Petra Winterkamp

„Erkennt, meine Freunde, was Bilder sind: das Auftauchen an einem anderen Ort."[1]

 

In allen Bildern von Petra Winterkamp ist ein Geheimnis von einem anderen Ort verborgen. Sie geben ihre Botschaften nicht auf den ersten Blick preis, deshalb trifft der wunderbare Satz Franz Marcs auf ihre Bilder zu.

 

Natürlich gibt es die strahlende Farbe, die uns unmittelbar anspricht; aber die Farbe und das Blattgold, das die Künstlerin verwendet, sind nur die vordergründige Lockung, auf den zweiten Blick entdecken wir verschlüsselte Zeichen, Schriften und Hieroglyphen, die bewußt an andere Orte und Zeiten erinnern sollen. Manche Texte scheinen auf, wie eine Vision, und ziehen sich wieder zurück. Das Bild „Majuskel“ erinnert an das „mene tekel upharsin“, der Inschrift Gottes an der Wand, die König Belsazars Untergang verkündete, weil er gewogen und für zu leicht befunden wurde. Keiner der vielen Schriftgelehrten konnte diese Sätze lesen, und sie verschwanden kurze Zeit nach ihrem Auftauchen, wie das Reich des Königs.[2]

 

Inschriften wollen wir übersetzen, aber in diesen Bildern scheitern wir nach ein paar Buchstaben. Manche Ritzungen hören mitten im Satz auf, wie bei einem ruinösen Architrav in einem griechischen oder römischen Tempel. Wir lesen nur die Anfangswörter von Sätzen oder ein Fragment, die ganze Botschaft erschließt sich uns nicht. Wir müssen wie Archäologen sein, die Schicht um Schicht ansehen, gedanklich abtragen, um nach dem Sinn zu suchen. Einige Bilder verraten ihre Geheimnisse nie; vielleicht sind das sogar die besten!

 

Petra Winterkamp interessiert sich seit langem für antike Ausgrabungsstätten, für Ruinen. Erst vor kurzem hat sie Pompeji besichtigt. Natürlich spricht sie die Freskomalerei der Etrusker an. Die vielen Schichten, die für diese Technik unerläßlich sind, bringt auch sie auf ihre Bilder auf. Reisen führten sie aber auch an Orte, an denen bronzezeitliche Felsritzungen seit Jahrtausenden von alten Kulturen künden. Sie nimmt diese Botschaften mit ins Atelier und setzt sie in ihren Bildern um.
 

Eine Ruine ist meist ein besonderer Sehnsuchtsort, ein romantischer Ort. Von Piranesi bis hin zu C. D. Friedrich wurden Maler immer wieder angeregt durch deren Schönheit und durch ihre Geheimnisse. Puvis de Chavannes, der französische Maler des Symbolismus, schrieb gar: „Es gibt etwas, das ist schöner als eine schöne Sache, die Ruine einer schönen Sache."[3]

 

Petra Winterkamp war nach dem Besuch der Ausstellung „Der geschmiedete Himmel“ fasziniert von der bronzezeitlichen Himmelsscheibe, die bei Nebra in Sachsen-Anhalt gefunden wurde. Dieses erste Zeugnis der Menschheit zum Thema „Astronomie“, mit goldenen Applikationen des Mondzyklus‘ und der Plejaden, veranlasste sie, eine ganze Serie zu diesem Thema zu malen.

 

Ebenso begeistert ist die Künstlerin von mittelalterlichen Palimpsesten. Dieses Wort meint die wieder beschriebenen Pergamente des Mittelalters. Das kostbare Pergament wurde häufig wiederverwendet, indem man es abschabte und neu beschrieb, palin heißt „wieder“ und  psaein „reiben“. Oft kann man die alte Schicht unter der neuen erahnen. Dies ist auch bei vielen Werken der Künstlerin zu sehen.

 

Die Farbe dieser Bilder ist so strahlend, weil reine Pigmente verwendet werden.

Das Aufstäuben der fein geriebenen Steine bringt mit sich, dass wir eine erhabene Oberfläche sehen, z.T. noch verstärkt durch Zumischung von Marmormehl, Gips oder Asche. Die dreidimensionale Farbfläche erinnert auf diese Weise wirklich an Gestein, an Mauerwerk, an Fresken. Und der Bildaufbau ist immer eine feste Ordnung, die nicht aus den Fugen geraten kann.

 

Außerdem zeichnen sich Petra Winterkamps Bilder durch handwerkliche Präzision und hohe Wertschätzung der Stofflichkeit der verwendeten Materialien aus. Ob sie nun hauchfein Blattgold aufträgt oder pastos Asche und Sand, sie weiß um die spezielle Wertigkeit des jeweiligen Materials und wie sie diese durch die Wahl der Farbe steigern kann. Besonders augenfällig wird dies bei den Stelen mit dem Titel „Scivaro“. Eine Schieferplatte wird in die Leinwand eingearbeitet und von grauen und mattweißen Farben begleitet, und es wird natürlich auf diese Schiefertafel geritzt und geschrieben.

 

Echte Kunst – wie die von Petra Winterkamp – regt etwas in uns an. Wenn uns dieses „Etwas“ nicht mehr losläßt, dann ist der Künstlerin eine großartige Leistung gelungen; wir sind einen Dialog mit ihrem Werk eingegangen und wir antworten seelisch darauf, wir sind - wie Franz Marc schrieb - „an einem anderen Ort“.

  

Dr. Martina Marschall,
Bernried am Starnberger See

 

 

[1] Marc, Franz, Aphorismus 82, 1915, in: Franz Marc – Briefe, Schriften und Aufzeichnungen, Leipzig 1989

[2] Vgl. (Daniel 5,25)

[3]Chavannes, Pierre Puvis de, in: Hempel, Eberhard, Ruinenschönheit, in Zeitschrift Kunst 2, 1948